Es ist leichter, die Menschen zu täuschen, als sie davon zu überzeugen, dass sie getäuscht worden sind.

(Mark Twain zugeschrieben)

Beobachtung beeinflusst Wirklichkeit

Der Informationsdienst der Wissenschaft berichtete 1998 unter dem Titel "Beobachtung beeinflusst Wirklichkeit" von einem Experiment, das am renommierten Weizmann-Institut durchgeführt wurde.
Der Bericht ist hier zu finden.

Der Text ist 25 Jahre alt, aber nicht minder spektakulär: Erstmals ist der sogenannte Beobachtereffekt nachgewiesen worden. Dass dieser Nachweis erst nach ca. 100 Jahren erbracht wurde, ist nicht ungewöhnlich. Bei der Verschränkung, bei Gravitationswellen, beim Higgs-Boson, beim Casimir-Effekt, etc. hat es auch lange gedauert. Das liegt meistens daran, dass die Technik erst so weit entwickelt werden musste, dass der Nachweis möglich ist.

Quantenheilung, Hellsehen, Telepathie etc. sind damit einer wissenschaftlichen Erklärbarkeit einen entscheidenden Schritt näher gekommen.

Handelt es sich dabei um einen wissenschaftlichen Text? Er sieht auf jeden Fall so aus. Das Weizmann-Insitut ist als solches über jeden Zweifel erhaben. Und "Informationsdienst der Wissenschaft" klingt auch Vertrauen erweckend.

Die fundamentale Aussage wird anhand eines Experiments belegt, das detailliert und trotzdem in leicht verständlicher Form beschrieben wird. Für eine genaue Beschreibung des Experiments und seiner Resultate wird auf eine wissenschaftliche Veröffentlichung verwiesen. Normalerweise sollte diese Veröffentlichung verlinkt sein. Das ist sie nicht, aber da Journal, Autoren und das genaue Veröffentichungsdatum angegeben sind, ist es leicht, die Veröffentlichung zu finden.

Veröffentlicht wurde in "Nature", das ist eines der führenden wissenschaftlichen Journale. Es ist dafür bekannt, sehr genau zu überprüfen und eine Veröffentlichung in Nature bringt den Autoren entsprechenden Respekt und viele sogenannte impact points ein.

Also gut, die Veröffentlichung aufsuchen. Dort sieht man erst einmal den abstract, das ist eine Kurzfassung, und zwar auf englisch. In diesem steht einiges über das Experiment, aber nichts über den Beobachtereffekt. Seltsam: Die Hauptaussage steht nicht im abstract? Das ist verdächtig.

Bis jetzt war alles ziemlich einfach und eigentlich könnte man es dabei schon bewenden lassen. Hätte ich im abstract eine Erwähnung des Beobachtereffekts gefunden, wäre ich jetzt fertig. Aber in der Originalarbeit könnte doch noch etwas darüber stehen, also weiter suchen. Die Originalarbeit ist nicht so leicht zugänglich. Andere Journale stellen ältere Arbeiten frei zur Verfügung, für diese Arbeit muss man bezahlen oder man findet sie in einer (Universitäts-)Bibliothek.

Und sie ist nicht so leicht zu lesen. Da geht es technisch und mathematisch zur Sache, natürlich auf englisch. Auf den ersten Blick habe ich das Gesuchte nicht gefunden. Mich interessiert das Experiment sowieso, also habe ich mich durchgebissen. Vielleicht steht es in der Schlussbetrachtung, vielleicht irgendwo im Text versteckt. In diesem Fall wäre der Artikel zwar aufgebauscht, aber nicht falsch.

Ergebnis: Auch im Volltext der Originalarbeit findet sich keine Erwähnung des Beobachtereffekts. Der Artikel ist definitiv fake news.

Wie kann so etwas, trotz der beschriebenen exakten Methodik, des Renommees des Weizmann-Insituts und des Renommees von Nature passieren?

Um die obige Frage zu beantworten: Der idw-Artikel ist keine wissenschaftliche Arbeit und daher vor der Veröffentlichung nicht unabhängig überprüft. Er berichtet in einfacher (und in diesem Fall deutscher) Sprache über eine wissenschaftliche Arbeit. Oder er sollte es tun. Normalerweise verlasse ich mich bei populärwissenschaftlichen Artikeln (Podcasts, Videos,...) darauf, dass der Inhalt auch wirklich stimmt.

Ich habe mich natürlich weiter damit beschäftigt. Der IDW hat sehr allgemein geantwortet, dass sie für den Inhalt nicht verantwortlich sind und dass ich mich direkt an den Absender wenden soll. Klingt nach einer standard-Antwort.
Die beiden email-Adressen des Weizmann-Instituts (im Nature paper ist auch eine angegeben) sind ungültig. Ich habe deshalb an die allgemeine Kontaktadresse des Instituts geschrieben, aber bis jetzt keine Antwort erhalten.

Dem Verfasser dürften die Pferde durchgegangen sein. Ein Nachweis des Beobachtereffekts erregt natürlich viel mehr Aufmerksamkeit als der Bericht über ein weiteres dephasing-Experiment.

Und 25 Jahre lang ist das niemandem aufgefallen?