and disregards the rest ("The Boxer", Simon and Garfunkel) |
Ich weiß was ich weiß. Ich glaube nur was ich mit eigenen Augen gesehen habe. Ich handle rational. Ist doch ganz einfach.
Nun, ist es wirklich so einfach?
Meine Augen erzeugen ein Abbild auf der Netzhaut, die Sehnerven erzeugen ein Abbild dieses Abbildes, meine Erinnerung erzeugt davon wieder ein Abbild, wenn ich jemandem erzähle was ich gesehen habe so entsteht in seinem Gehirn ein Abbild und das Licht das meine Augen erreicht hat ist sowieso nur ein Abbild der Gegenstände die das Licht ausgesendet oder reflektiert haben. Sinnestäuschungen zeigen uns an einfachen Beispielen dass das Abbild nicht immer mit der Realität übereinstimmt. Da und dort bemerke ich dass mir die Erinnerung einen Streich spielt (und wie oft wird sie es wohl tun ohne dass ich es bemerke...).
Ich weiß dass die Erde rund ist. Woher eigentlich? Ich habe es oft gehört. Ich habe Fotos aus dem Weltall gesehen. Nun, Fotos könnten manipuliert sein und sind sowieso nur Abbilder. Ich habe mit eigenen Augen gesehen dass der Neusiedlersee gekrümmt ist. Stimmt nicht ganz, ich habe ein Segel gesehen ohne den Rumpf des Bootes zu sehen (und nehme an dass unter dem Segel ein Bootsrumpf war). Unter der Annahme dass sich Lichtstrahlen geradlinig ausbreiten (was auch wieder nicht exakt und überall so ist) schließe ich dass der Neusiedlersee gekrümmt ist. Das müsste allerdings nicht für die ganze Erde gelten, schließlich gibt es Hügel - und Mulden.
Also, ich zweifle ja nicht daran dass die Erde rund ist, aber der Begriff "Wissen" wird bei näherer Betrachtung etwas unscharf.
Michael Springer zitiert den Religionslehrer seiner Tochter der Religion und Naturforschung auf eine Stufe stellte indem er behauptete, auch Wissenschaft beruhe auf Glauben. Ein Physiker vertraue auf das Gesetz der Schwerkraft, wie ein Christ an Gott glaube. (siehe hier).
Dass beides Glauben ist, ist OK, aber es ist doch eine andere Qualität von Glauben. Mit Hilfe des Gesetzes der Schwerkraft kann ich verlässliche Voraussagen machen. Um seine Gültigkeit zumindest in meiner unmittelbaren Umgebung zu überprüfen kann ich ein einfaches Experiment machen, an einem Experiment zur Überprüfung der Existenz Gottes haben sich Theologen und Kirchenlehrer jahrhundertelang die Zähne ausgebissen und es letztlich aufgegeben. Eine Voraussage die ich auf der Existenz Gottes aufbaue wird sich mein Leben lang nicht erfüllen - vielleicht nachher, aber das werde ich erst dann feststellen können - wenn überhaupt.
Einen Esoteriker der nach seiner eigenen Angabe auf einer "bestimmten" Stufe der Entwicklung steht, und der behauptet es besser zu wissen, habe ich gefragt wie er sein "Wissen" von Einbildung unterscheiden kann. Seine entwaffnend ehrliche Antwort: Er kann es nicht unterscheiden.
So unscharf möchte ich den Wissens-Begriff doch wieder nicht fassen.
Wir haben die nützliche Angewohnheit Kausalitätsbeziehungen zu suchen und zu erkennen.
Wenn jemand mit offenen Augen durch die Welt geht fällt ihm z.B. ein einzelnes vierblättriges Kleeblatt in einer Wiese auf. Er wird auch sonst so manches bemerken was anderen verborgen geblieben ist, wird so manches zu seinem Vorteil ausnutzen können und es wird daher für andere so aussehen als hätte er mehr Glück als andere. Der Aberglaube besteht darin, anzunehmen das vierblättrige Kleeblatt sei die Ursache des Glücks. Darum bringt es nichts, vierblättrige Kleeblätter zu züchten.
Aberglaube ist das vorschnelle Annehmen von Kausalität. Diese Definition von Aberglaube sagt aber nichts darüber aus was "vorschnell" bedeutet. Wie lange muss ich Ereignisketten untersucht haben bevor ich Kausalitätsbeziehungen annehmen kann? Wie lange muss versucht werden eine These zu widerlegen bevor ich sie glauben kann?
Dem Abergläubischen bleibt es verborgen, da er ja die von ihm beobachtete Kausalität bereits als wahr bezeichnet und wahrscheinlich sogar durch weitere Beobachtung bestätigt bekommt.
Deshalb könnte es natürlich sein dass unser gesamtes Wissen über die Welt Aberglaube ist. Wir könnten z.B. in der Matrix leben. Die Behauptung dass unser gesamtes Wissen über die Welt Aberglaube sei gibt es tatsächlich. Mit einer alternativen Erklärung befasse ich mich an anderer Stelle ausführlich.
Immer wenn es regnet habe ich keinen Schirm mit. Immer wenn ich einen Schirm mit habe regnet es nicht. Ich nehme einen Schirm mit damit es nicht regnet. Durch wiederholte Beobachtung bestätigt.
Wir glauben es ja nicht wirklich sondern erzählen unsere Erlebnisse augenzwinkernd. Dass es dauerhaft Regen verhindert wenn ich ständig einen Knirps in meinem Rucksack trage wird wohl niemand ernstlich behaupten.
In geschätzten 90% der Fälle regnet es nicht und ich habe keinen Schirm mit. In geschätzten 9% ist Regenwetter, ich habe einen Schirm mit und es regnet tatsächlich. Business as usual, nicht der Rede wert. Im verbleibenden einen Prozent habe ich meinen Schirm unnötig mit oder ich hätte gut daran getan ihn mitzunehmen. Erst dann werde ich darauf aufmerksam. Dann erinnere ich mich an ähnliche Fälle und stelle fest: Immer wenn ich (k)einen Schirm mit habe bleibt es (nicht) trocken. Murphy's law ist bestätigt. Wieder einmal!.
Das ist ein typischer Mechanismus des Aberglaubens.
Wenn ich erwarte dass etwas - nach Murphy - schiefgeht und es geht nicht schief dann widerlegt das Murphy's law natürlich nicht. Man muss Murphy's Law nämlich auch auch auf Murphy's law anwenden. Alles was schiefgehen kann geht schief, daher ist der Versuch Murphy's law zu beweisen von Vornherein zum Scheitern verurteilt - und der Beweis gelungen.
Was ist also der Unterschied zwischen Wissen und Aberglaube?
....
Muss ich diese Frage jetzt beantworten? Ich muss nicht alles wissen.
Ich denke rational. Warum eigentlich?
Ja, richtig, gescheites Kind!
Wir wurden schon als kleine Kinder für rationales Denken belohnt. Wir werden auch als Erwachsene immer wieder dafür belohnt. Ich bemerke an mir selbst welche Freude ich daran habe eine logische Folge von Argumenten abzuwickeln, auch wenn ich es nur in Gedanken mache.
Da kann es allerdings passieren dass wir das rationale Verhalten überbewerten und uns zu Denkmaschinen machen. Dass wir den Verstand über das Gefühl stellen. Dass wir Spontanes unterdrücken und nur akzeptieren was über ein Kette von logischen Schlussfolgerungen hergeleitet wurde. Dass wir uns nur erlauben über etwas zu lachen was ausdrücklich als Witz deklariert ist und mit unserem "echten" Leben verlässlich nichts zu tun hat.
Ich behaupte also, dass der Mensch immer emotional handelt und entscheidet. Ich behaupte dass er nur deswegen rational handelt und entscheidet, weil er es als angenehm empfindet. Weil er sich vor anderen auf diese Art rechtfertigen kann und auch das empfindet er als angenehm. Also erst wieder emotional.
Man kann es auch noch radikaler sehen, wie z.B. Will Storr in seinem Buch "The Heretics": Wir entscheiden ausschließlich emotional und verwenden rationale Argumente um unsere "aus dem Bauch" getroffenen Entscheidungen und Ansichten zu rechtfertigen - ohne dass uns das bewusst wird. Man sollte den Satz "Ich glaube nur was ich sehe" sogar umdrehen: "Ich sehe nur was ich glaube".
Rationales Denken schützt nicht vor Aberglauben. "Im Gegenteil", möchte ich fast sagen.
So komme ich wieder einmal zum nicht-trennen und nicht-werten. Es ist gut und richtig, rational zu denken. Wir müssen aber nicht versuchen es zu 100,00% zu tun. Wir müssen nicht einmal zwischen Rationalität und Irrationalität trennen.
Dieser Text hier ist eine rationale Abhandlung über die Vorteile der Irrationalität. Ist das nicht schön?